Unwillig
Die Reise war anstrengend gewesen. Das stets aufgesetzte Lächeln, das ununterbrochene Zeugen von guter Laune und das Blicken in fremde Gesichter, die ebenso angestrengt eine gute Miene zogen. Obgleich ihm zu keiner Sekunde zum Lachen zumute gewesen war, schließlich war das, was er getan hatte, notwendig gewesen. Nicht mehr und nicht weniger. Declan Lindermans Softwareunternehmen hatte immer gute Erträge erbracht, während sein asiatischer Konkurrent immer billiger und größer geworden war. Ein Verkauf war für Declan niemals in Frage gekommen. Ein Zusammenschluss war daher die einzige Lösung gewesen, damit er nicht völlig die Kontrolle über sein Vermächtnis verlor oder sein Unternehmen geschlossen, sowie sämtliche seiner Mitarbeiter ihren Job verloren – seine Firma quasi aufgefressen würde.
Obgleich ihn die Führungskräfte des japanischen Konzerns gut und mit Respekt behandelt hatten, hatte ihm das gesamte Unterfangen kein Vergnügen bereitet und er war einfach nur froh, dass es vorbei war. Die Fusion war durch und er würde nun endlich einige Tage ausspannen können.
Er schritt durch die überfüllte Halle des San Francisco International Airport in Richtung Ausgang. Wie immer herrschte dort der alltägliche Trubel. An den Schaltern hatte sich eine Schlange von Menschen verschiedenster Nationalitäten gebildet. Familien, Geschäftsreisende und solche, die sich nicht einordnen ließen, und sie alle wollten ihr Ticket einlösen.
Immer wieder fuhr er sich gedankenlos mit einer Hand über sein schlankes, kantiges Gesicht, welches von männlichen Zügen geprägt war, während er sich ab und an unbewusst durch sein kurzes, dunkelbraunes Haar strich. Unvermittelt trafen die Blicke einiger junger, weiblicher Reisender auf ihn, welche ihm unterschwellig Interesse vermitteln sollten. An jedem anderen Tag hätte der geschiedene Vater zweier kleiner Jungen die Gelegenheit wahrgenommen und eine jener reizenden Damen angesprochen. Aber nicht heute. Er fühlte sich ausgelaugt und ermüdet und wollte einfach nur auf dem schnellsten Weg nach Hause, während er von einer kalten Dusche und einem einfachen Sandwich als Abendessen träumte.
Als er durch die automatische, gläserne Schiebetür nach draußen gelangte, erwartete ihn reger Tumult. Taxis die ankamen und mit einem einsteigenden Fahrgast sofort wieder davonbrausten und lärmende Massen von Menschen, die verzweifelt eines jener begehrten Gefährte ergattern wollten, füllten den Außenbereich des Flughafens.
Obwohl es bereits später Nachmittag war, brütete die Hitze noch immer vor sich hin, worauf er eine Sonnenbrille aus der Innentasche seiner schwarzen Anzugjacke zückte und damit seine hellbraunen Augen verhüllte. Zugleich erblickte er inmitten der gelben Taxen die pechschwarze Limousine seines langjährigen Fahrers Enrique, der ihm bereits im Schnellschritt entgegentrat. Mit einem höflichen Lächeln begrüßte ihn der treue, grauhaarige Mann und nahm unverzüglich Declans Koffer entgegen. Declan beobachtete, wie Enrique die Gepäckstücke im Kofferraum der über fünf Meter langen Stretch-Limousine verstaute und ihm anschließend eine der Wagentüren öffnete.
Dankend setzte sich Declan ins Innere des Fahrzeugs und vernahm, wie die Tür wieder ins Schloss fiel. Kurz darauf saß Enrique wieder am Steuer und fragte in gesittetem Ton: „Hatten Sie einen angenehmen Flug, Sir?“
„Ach Enrique, der Flug war noch das Beste an allem.“
„Ich verstehe, Sir“, erwiderte Enrique mit einem dezenten Lächeln.
Schließlich versuchte Enrique den Wagen aus der Parklücke zwischen den vielen Taxis zu lenken, während Declan ermattet einen Blick durch die Scheibe des Seitenfensters warf. Und wie er gedankenlos nach draußen blickte, fiel ihm inmitten des Menschenauflaufs eine junge Frau ins Auge. Sie ragte aus der Menge und war bildhübsch ja nahezu betörend, wodurch er augenblicklich verstand, weshalb sie ihm sofort in den Fokus gefallen war. Sie trug ein hautenges, schwarzes Kleid, das knapp über ihren zierlichen Brüsten begann und auf halber Strecke ihrer geschmeidigen, wohlgeformten Oberschenkel endete. Dazu trug sie schwarze Stöckelschuhe und eine dunkle, kleine Damenhandtasche. Ihr schulterlanges, braunes Haar war leicht gewellt, wobei sie mit jeder Bewegung eine Strähne aus ihrem Gesicht pusten musste. Große, kastanienbraune Augen, eine kleine spitzen Nase sowie wohlgeformte, volle Lippen gestalteten ihre Züge zu einem geradezu makellosen Antlitz.
Kaum mehr imstande seinen Blick abzuwenden, verfolgte Declan, wie der jungen Dame soeben das zweite Taxi vor der Nase weggeschnappt wurde. Nach wie vor ermüdet von seiner Reise, ermahnte er sich in Gedanken, dass einer Frau wie ihr Hilfeleistung zu stellen, wohl noch drinnen sein sollte.
„Warten Sie bitte kurz, Enrique“, verlautete Declan unmittelbar.
„Natürlich, Sir.“
Enrique stoppte den Wagen, während Declan das Seitenfenster herabließ und der Dame entgegenrief: „Entschuldigen Sie, Ma’am!“
Sie wandte ihm ihren Blick zu und ihr verzweifelter Ausdruck wechselte zu einem breiten Lächeln. „Ja, bitte?“
„Nun, ich sehe, dass sie sich gerade etwas schwer tun. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?“
„Wohin fahren Sie denn?“
„Nach Kings Mountain.“
„Das wäre genau meine Richtung – ich muss zwar noch etwas weiter, aber das wäre mir schon eine große Hilfe! Und Sie wären bereit dazu?“
„Aber natürlich, steigen Sie ein!“
Sie trat näher und er öffnete ihr von innen die Tür. Während sie einstieg, hatte Declan alle Mühe dem Bewundern ihrer langen und glattrasierten Beine ein für alle Mal Einhalt zu gebieten.
Sie ließ sich direkt neben ihm auf der luxuriösen Lederbank nieder und schloss die Tür, deren schwarz getönte Scheiben den Effekt hatten, als würden sie augenblicklich von der Außenwelt abgeschnitten. „Reisen Sie immer so komfortabel?“
„Man gewöhnt sich daran“, antwortete er bescheiden.
Er betrachtete ihre kleine Damenhandtasche. „Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die mit so wenig Gepäck reißt.“
„Man gewöhnt sich daran.“
Declan musste unweigerlich schmunzeln.
„Nein“, fuhr sie fort, „es war bloß eine kurze Geschäftsreise – hin und am selben Tag wieder zurück.“
„Ich verstehe.“ Er reichte ihr seine Hand. „Declan Linderman.“
„Melissa Allbright, sehr angenehm“, erwiderte sie.
Schließlich setzte sich der Wagen in Bewegung, wobei Enrique das Fahrzeug aus der Parklücke lenkte.
„Womit verdienen Sie ihre Brötchen Mr. Linderman?“, fragte sie mit gutgelauntem Ton in ihrer Stimme.
„Ich komme aus der Softwarebranche. Sie?“
„Modeszene.“
„Sie besitzen also ihr eigenes Label?“
Sie lachte kurz auf. „Schön wär’s! Nein, ich bin bloß eine kleine Vertreterin.“
Declan lächelte und wandte seinen Blick nach vorne. Es vergingen einige Momente, als er bemerkte, wie die junge Dame ihn ununterbrochen musterte. Er drehte sich zu ihr und sah sie an. „Habe ich Schuppen oder sowas?“
Wieder wandelten sich ihre vollen Lippen zu einem breiten Lächeln. „Oh nein, keinesfalls, Sie erinnern mich nur sehr stark an jemanden.“
„Jemand, den Sie mögen?“
„Allerdings …“, erwiderte sie mit einem melancholischen Ausdruck, der unmittelbar ihr gesamtes Gesicht beherrschte.
Erneut folgten einige Sekunden der Stille, als Declan schließlich erwähnte: „Die Fahrt wird etwa eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, wenn Sie möchten, können Sie sich gerne zurücklehnen und etwas ausspannen oder schlafen.“
„Nicht nötig, ich bin nicht müde, aber vielen Dank. Es sei denn Sie möchten gerne ein wenig entspannen, in dem Fall werde ich mich wie ein Mäuschen verhalten.“
„Kommt darauf an, wenn Sie mich unterhalten, versuche ich aufmerksam zu bleiben.“
„Sie unterhalten, so so …“
Declan konnte der jungen Frau förmlich ansehen, wie ihre Gedanken unermüdlich zu Arbeiten begannen.
„Ah ich hab’s! Wie wäre es, wenn ich ihnen einen Witz erzähle?“
Declan war positiv überrascht, schon seit Ewigkeiten hatte ihm niemand mehr einfach nur einen Witz erzählt, und wenn, dann kam jener kaum aus dem Munde einer Frau. Frauen waren wohl, was das anging, eher etwas verhalten, im Gegensatz zu Männern – warum auch immer. „Na dann lassen Sie mal hören.“
Mit einem etwas reumütigen Ausdruck meinte sie schließlich: „Es könnte allerdings sein, dass der Witz etwas delikat ausfallen wird, wäre das in Ordnung?“
„Jetzt bin ich aber gespannt, schießen Sie los.“
„Na schön“, begann sie euphorisch. „Der Witz ist mir eingefallen, da er ziemlich gut zur Situation passt, es geht nämlich um einen älteren Herren, der per Anhalter in einer abgelegenen Landschaft trampt. Nach Stunden kommt das erste Fahrzeug vorbei, es ist ein junger Mann, der sofort anhält und den Herrn gestattet einzusteigen. Da zückt der alte Mann plötzlich eine Knarre hinter sich hervor und zielt damit auf den jungen Fahrer. Der Junge ist natürlich völlig erschrocken und der Alte sagt tonlos: ‚So und jetzt holst du dir einen runter.‘ Der junge Mann kann kaum glauben, was da von ihm verlangt wird, doch der Alte spannt den Hahn seines Revolvers und wiederholt seine Anweisung. Der Junge holt also seinen Klettermaxen aus der Hose und beginnt zu reiben. Hektisch versucht er Folge zu leisten und gibt sich alle Mühe, bis er schließlich fertig ist und erleichtert aufatmet. Als der Alte sagt: ‚Und gleich noch mal!‘ Der Fahrer traut seinen Ohren nicht. Als er bemerkt, dass der alte Mann es ernst meint, legt er schließlich erneut los. Wieder rubbelt er was das Zeug hält, bis er schließlich ein weiteres Mal kommt und erschöpft aufatmet. ‚Und jetzt das Ganze noch mal.‘, sagt der alte Mann. Der Fahrer fleht hysterisch: ‚Um Gottes willen, nein! Das geht nicht!‘ Da gibt der Alte einen Schuss in die Luft ab und der Junge legt wohl oder übel erneut Hand an. Erschöpft und wehmütig bewegt der Fahrer sein halbschlaffes Glied dazu, ein letztes Mal alles aus sich herauszuholen. Als er letztlich irgendwann fertig ist, hechelt und keucht der Junge schweißgebadet vor sich hin. Weinerlich sieht er dem Alten entgegen, als plötzlich hinter einem Steinvorsprung ein bildhübsches, junges Mädchen hervorspringt. Der alte Mann öffnet ihr die Tür und wendet sich wieder an den Fahrer: ‚So, und jetzt kannst du meine Tochter bis zur nächsten Stadt mitnehmen.‘ Darauf bedankt er sich noch und verabschiedet sich von den beiden.“
Stille.
Sekundenlang.
Plötzlich spürte Declan, wie ein vergnügtes Grinsen seinen Lippen entwich, zugleich drang ein lauthalses Lachen aus der Fahrerkabine nach hinten, wobei es schien, als könnte sich Enrique kaum mehr halten.
„Köstlich!“, meinte Declan wohlgesonnen, während der Blick der jungen Frau lächelnd sowie ein wenig irritiert zwischen Declan und dem Fahrer hin und her wechselte.
„Naja, den Witz gibt’s in mehreren Varianten, aber so gefällt er mir am besten“, fügte sie hinzu.
Declan bemerkte, dass er sich in ihrer Gegenwart wohl fühlte und musste sich eingestehen, dass er mehr als nur beeindruckt war von dieser Frau. Sie hatte etwas ganz Besonderes, etwas das er noch an keiner Frau wahrgenommen hatte. Was genau es war, konnte er jedoch nicht so recht definieren – in jedem Fall war sie interessant, so viel stand fest. Und vielleicht war da sogar noch mehr, das er für sie empfand, da er sich vom ersten Augenblick an zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Anfangs hatte er die Befürchtung, dass dieses Gefühl der Anziehung bloß auf ihr Äußeres zurückzuführen war, worauf er nicht unbedingt den größten Wert legte, denn das Äußere eines Menschen konnte seiner Erfahrung nach auch täuschen. Doch als er schließlich mit ihr ins Gespräch gekommen war, wusste er, dass eindeutig mehr hinter jenem anfänglichen Gefühl steckte.
Für einige Momente breitete sich ein Schweigen über die Anwesenden und noch immer schwenkte ihr Blick sichtlich konfus zwischen der Fahrerkabine und ihm umher. Eventuell hatte sie die Reaktion des Fahrers etwas verunsichert, wobei ihr möglicherweise in diesem Augenblick genauso sehr der Sinn nach etwas mehr Intimsphäre stand, wie ihm.
Unauffällig betätigte er eine Taste, die sich an einem Schaltpult an der Decke des Wagens befand. Mit einem elektronischen Surren schob sich kurz darauf eine dunkle Trennwand zwischen Cockpit und Gästebereich empor und schottete somit beide Abteilungen ab.
Declan erkannte, wie sie auf seine Handlung mit einem seichten Lächeln und einem kurzen Nicken reagierte. Er hatte die Zeichen also richtig gedeutet und war erleichtert darüber zu ihrem Wohlbefinden beigetragen zu haben. Immerhin hatten sie noch eine längere Fahrt vor sich und ihm lag daran, ihr diese ebenso angenehm zu gestalten, wie ihm.
Schließlich brach sie das Schweigen und meinte mit einem Hauch an Beschämung in ihrem Ausdruck: „Nun, es ist mir furchtbar peinlich, aber es mag wohl das Beste sein, wenn ich es geradeheraus anspreche: Leider waren die Toilettenräume am Flughafen dermaßen überfüllt, sodass ich mich dazu entschlossen habe auszuharren, doch nun scheint es wohl so, als wolle mein genialer Plan nicht aufgehen – könnten wir also womöglich an der nächsten Haltestelle oder so …“
„Aber natürlich, machen Sie sich keine Gedanken“, schnitt er ihr das Wort ab und betätigte gleichzeitig die Fernsprechanlage zum Cockpit. „Enrique, könnten wir an der nächsten Tankstelle kurz Halt machen?“
„Selbstverständlich, da vorne ist bereits eine, Mr. Linderman“, drang Enriques Stimme aus einem der Lautsprecher.
Sie lächelte erleichtert. „Vielen Dank.“
„Aber nicht doch.“
Einen Moment darauf ertönte bereits der Klang der Blinkanlage und sie spürten, wie der Wagen eine leichte Kurve fuhr.
„Bitte sehr Mr. Linderman“, gab Enrique durch, während dieser das Fahrzeug stoppte und den Motor abstellte.
„Ich bin so schnell wie möglich wieder da!“ Sie öffnete eilig die Tür, während gedämpftes Tageslicht ins Innere drang und Declan erhaschen konnte, dass sie auf einem leeren Parkplatz, am Rande einer Tankstelle, angehalten hatten. Zackig sprang die junge Dame aus dem Wagen und schloss hinter sich wieder ab, worauf Declan noch für einige Sekunden hören konnte, wie die Stöckel ihrer Schuhe hallend über den Asphalt klacksten, bis das Geräusch schließlich langsam in der Atmosphäre verklang.
Eine angenehme Stille kehrte ein und ein Gefühl von friedlicher Ruhe breitete sich in Declan aus. Es waren vielleicht einige Minuten vergangen und Declan begann abwechselnd mit seinen Fingern gegen den Oberschenkel zu tippen. Allmählich fühlte er, wie seine Gedanken abzudriften begannen. Als plötzlich aus dem Nichts ein klingendes Geräusch ertönte, wurde Declan prompt wieder ins Hier und Jetzt katapultiert. Er zuckte kurz zusammen und blickte sich verwundert um. Das Geräusch kam aus der Handtasche der jungen Frau, die noch immer auf dem Ledersitz verweilte. Zögernd beugte er sich über die Tasche und riskierte einen kurzen Blick. Der Reißverschluss war offen und das leuchtende Display eines Smartphones flimmerte ihm aus dem Inneren entgegen. Die abgekürzten Worte „Police Dep. San Fr.“ zeichneten sich auf der Anzeige ab, wobei Declan spürte, wie sich vor Verwunderung seine Augenbrauen hoben.
Die Polizei, fragte er sich entgeistert. Ein Polizeirevier würde einen Anruf wohl kaum aus Nichtigkeiten tätigen, fuhr ihm durch den Sinn. Was, wenn es sich um eine äußerst wichtige oder prekäre Angelegenheit handelte und das Revier aufgrund der Abwesenheit der jungen Dame, nun erst in einigen Stunden oder gar erst am nächsten Tag wieder zurückrufen würde? In Sekundenschnelle schossen hunderte Gedanken durch seinen Kopf und tausende Fragen, wie; sollte er möglicherweise sämtliche Gesetze des Anstandes brechen und um Ihretwillen den Anruf annehmen? Nur dadurch könnte er den Beamten in der Leitung erklären, dass die Frau in wenigen Minuten wieder zurück sei und sie somit entweder warten oder in wenigen Augenblicken erneut anrufen könnten. Er musste eine Entscheidung treffen und zwar schnell, denn stellte sich das Klingeln ein, so wäre das Zeitfenster verpasst.
Obgleich ihn das unangenehme Gefühl durchfuhr, dass er in diesem Moment wohl das Verhalten eines ungebildeten Flegels an den Tag legte, fasste er bereits in das Innere der Tasche. Während er den Anruf entgegennahm, versuchte er sich mit jenem Gedanken reinzuwaschen, dass jene Handlung eine absolute Ausnahme darstellte und er damit nicht mehr als eine Hilfestellung leisten wollte.
„Hallo?“
„Sir, hier spricht Lieutenant Zensino, ich bin Verhandlungsbeauftragte des San Francisco Police Department“, drang die überaus sachliche Stimme einer Frau mittleren Alters aus dem Hörer. „Sind sie Mrs. Brunos Partner in dieser Sache?“
„Bruno? Was?“, stotterte Declan perplex.
Doch die Stimme sprach unverhalten weiter. „Könnten Sie das Telefon bitte an Mrs. Bruno weiterreichen?“
„Egal um was es hier geht“, gab Declan aufgeregt zurück, „ich möchte Ihnen bloß mitteilen, dass die Besitzerin dieses Handys in Kürze wieder zurück sein wird! Wenn Sie möchten, können Sie warten oder -“
„Mrs. Bruno ist also im Moment nicht zugegen?“, schnitt ihm die Frau das Wort ab.
„Warum Bruno?“ Declan spürte, wie seine Ungeduld ins Unermessliche stieg. „Und nein, wie es aussieht ist sie nicht zugegen! Sie ist gerade auf der Toilette und -“
Wieder fiel ihm die Stimme ins Wort: „Sir, wer sind Sie? Können Sie uns Ihren Namen nennen und schildern, in welcher Beziehung Sie zu Mrs. Bruno stehen?“
„Beziehung? In gar keiner Beziehung! Mein Name ist Declan Linderman und ich habe mich bloß dazu bereit erklärt, die junge Dame vom Flughafen aus ein Stück mitzunehmen!“
„Sie kennen sie also nicht?“
„Nein!“
„Handelt es sich dabei um eine Frau Anfang dreißig, etwa ein Meter siebzig groß, schlank und mit braunem Haar?“
„Ja, aber wieso? Was verdammt noch mal ist hier los? Was soll das alles und warum stellen Sie mir all diese Fragen?“
„Sir, beruhigen Sie sich und hören Sie jetzt ganz genau zu: Dieses Telefon, das sie soeben in der Hand halten, gehört einer Toten, einem Mordopfer. Dessen erdrosselte Leiche wurde vor kurzem im Flughafenhotel des San Francisco Airport entdeckt, mit diesem Anruf hatten wir uns erhofft mit der Täterin sprechen zu können. Deren wahrer Name lautet Alice Bruno, sie ist heute Morgen aus der psychiatrischen Sicherheitsverwahrung entflohen, wo sie noch mindestens hätte zwanzig Jahre absitzen müssen. Sie ist eine psychopathische Straftäterin, die wegen zweifachen Mordes verurteilt wurde – sie hat seit ihrer Kindheit eine Besessenheit zu einem gewissen Ben Teacher entwickelt und vor einigen Jahren dessen Frau und Tochter mit einer Rohrbombe getötet, um ihn ganz für sich alleine zu beanspruchen. Wir vermuten, dass sie sich nun auf dem Weg zu ihm und seiner zweiten Tochter befindet, im Madera Creek Preserve. Während ihres Ausbruchs aus der psychiatrischen Gefängnisanstalt heute Morgen, mussten ebenfalls eine Mitarbeiterin und ein Sicherheitsbeamter sterben, zudem hat sie sich dessen Pistole bemächtigt. Bruno ist somit eine fünffache Mörderin und äußerst gefährlich!“
Declan kam es so vor, als würde der Boden unter ihm zu schwanken beginnen und ihm wurde schummrig vor Augen. Er fürchtete jeden Moment aus dem Sessel zu gleiten und mit einem Mal schien er durch eine geisterhafte Welt zu treiben, so als würde er schweben. Ganz allmählich drang die Stimme der besorgten Polizeibeamtin wieder in sein Bewusstsein. „Sir? Sind Sie noch am Apparat, Sir? Hallo?“
Declan war kaum mehr Herr seiner Sinne und fühlte sich wie gelähmt und die Worte die er von sich gab, hörten sich eher an, wie ein gebrochenes Flüstern. „Jaja … ich bin noch da.“
„Gut, Sir.“ Die weiteren Ausführungen der Beamten klangen äußerst eindringlich, während Declan ein weiterer kühler Schauer über seinen Nacken lief. „Passen Sie jetzt gut auf Mr. Linderman, denn was ich Ihnen jetzt sage, ist von äußerster Wichtigkeit: Diese Frau ist eine Psychopathin und absolut unberechenbar, versuchen Sie nicht sie zu stoppen oder sie in irgendeiner Weise in Aufruhr zu bringen. Sie ist bewaffnet und bereit dazu jeden zu töten, der sich ihr in den Weg stellt. Durch die Handyortung können wir nur einen groben Umkreis Ihres genauen Standortes ermitteln, können Sie uns also sagen, wo Sie sich in diesem Moment genau befinden? Und ist es Ihnen möglich, sich anschließend irgendwie in Sicherheit zu bringen?“
„Eh … ich eh …“
Im selben Moment vernahm er bereits das näherkommende Klacksen von Alice Brunos Stöckelschuhen. Er hörte, wie ihre schlanken Finger mitsamt ihrer langen Nägel nach dem Griff der Tür suchten. Er erstarrte und seine Kinnlade rutschte nach unten, während er spürte, wie seine Augen so groß wie Tennisbälle wurden – dann öffnete sich die Wagentür.
Große, dunkle Augen sahen ihm entgegen und erkannten sichtlich seinen erschrockenen Ausdruck. Da wandelte sich Alices Blick von einem Moment auf den anderen erst zu einer misstrauischen und anschließend langsam aber sicher zu einer gefährlich bedrohlichen Fratze.
Als Declan wieder einigermaßen zu einer Art Geistesgegenwärtigkeit zurückkehrte, beugte er sich blitzartig vor, fasste an den Hebel und riss mit aller Kraft die Tür zu. Beinahe zeitgleich betätigte er den Schalter der Verriegelung und schloss sich ein, während ihm das Mobiltelefon aus der Hand glitt. Er vernahm, wie Alice gereizt nach ihm rief und gegen das Glas der Scheibe hämmerte, zugleich spürte er, wie das Gehäuse des Wagens zu wanken begann, als sie wie wild geworden am Griff der Tür rüttelte. Und dann herrschte plötzlich Stille.
Kein Laut.
Kein Rütteln.
Alles war absolut ruhig.
Nach einigen Momenten hörte er schließlich erneut ein Geräusch. Eine der Türen der Fahrerkabine öffnete sich, worauf er die seichten Vibrationen wahrnahm, als sich diese wieder schloss. Dann geschah einige Augenblicke lang nichts. Plötzlich vernahm er ein leises Poltern und erneute Vibrationen, einen Moment darauf schob sich die Abtrennung zum Cockpit einen Spalt nach unten. Alices dunkelbraune Augen sahen hindurch und blickten Declan entgegen. Sie saß auf der Fahrerseite, im Hintergrund waren dunkelrote, klebrige Blutspritzer zu erkennen, die wie Straßen auf einer Landkarte die Windschutzscheibe hinabsickerten. Auf dem Armaturenbrett lag ein blutverschmiertes Taschenmesser und im engen Bereich zwischen Beifahrersitz und Armatur war der Körper seines Chauffeurs auszumachen, leblos und zusammengepfercht. Es glich dem Bild eines Käfers, den man tot und zusammengekringelt in der Rinne eines Fußbodens fand.
Declans Herz begann wie wild zu pochen und er spürte, wie ihn blanke Panik überfiel. „Enrique! Was hast du mit Enrique gemacht?“
Doch Alice ging kaum auf sein Gezeter ein. „Der wird dich wohl nirgendwo mehr hinfahren. Also, wie hast du davon erfahren?“ Ihre Stimme klang locker, beinahe teilnahmslos. „Lass mich raten … das verdammte Handy – die haben dich angerufen, nicht wahr?“ Sie schüttelte den Kopf, so als würde sie sich damit selbst schelten. „Ich wusste, ich hätte es wegwerfen sollen – und das wollte ich auch! Aber ich habe es schlicht und einfach vergessen … was soll man dazu sagen … ich musste doch zuvor einige Busverbindungen und Straßenverläufe googeln … verflixt noch eins!“ Schließlich schlug sie mit der Faust einmal kurz gegen das Lenkrad.
Sofort nutzte Declan die Gelegenheit, betätigte den Schalter der Sperrvorrichtung und fasste an den Türgriff. Im selben Moment hallte jedoch ein lautes Klicken durch das Wagengehäuse, da Alice von der Fahrerkabine aus die Zentralverriegelung gleich wieder aktiviert hatte.
„Na na, nicht so schnell“, meinte sie gelassen, dabei brummte der Motor des Wagens auf und Declan spürte, wie sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. „Ich habe nämlich Gefallen an dir gefunden und ich weiß, dass es dir ebenso ergangen ist. Du hast es doch auch gespürt, da war doch was zwischen uns, nicht wahr? Also gib uns wenigstens die Möglichkeit, uns besser kennenzulernen und damit ich dir alles erklären kann.“
Declan geriet außer sich. „Was willst du mir denn erklären? Da gibt es nichts, das du mir erklären könntest! Du bist einfach eine Psychopathin, eine Durchgeknallte, die etwas Schlimmes im Schilde führt – mehr nicht!“
Entrüstung war Alices Stimme zu entnehmen, zugleich trat sie wütend auf das Gaspedal. „Was? Du bist also auch gegen mich? Erst Ben und jetzt auch noch du?“ Ihre Stimme wurde immer lauter und ein Hauch an Hysterie war daraus zu vernehmen. „Was ist bloß los mit euch? Ich war dabei mich völlig in dich zu verschießen und jetzt … anscheinend ist es egal wie sehr man euch vergöttert, letzten Endes wird man von euch im Stich gelassen! Warum nur seid ihr alle dermaßen unwillig euch eure wahren Gefühle einzugestehen? So dermaßen unwillig zu lieben und zu begehren, so wie man auch euch begehrt? Was ist euer Problem, verfluchte Scheiße?“
„Fahr langsamer!“, schrie Declan.
„Wirf du erst mal das Handy aus dem Fenster! Und dein eigenes auch! Na los!“
Währenddessen schob sich die linke Fensterscheibe einige Zentimeter nach unten. Declan sah die kaum befahrene Landstraße an ihnen vorbeiziehen und fühlte den Fahrtwind auf seiner Gesichtshaut. Er bewegte sich keinen einzigen Millimeter, als er spürte, wie Alice den Wagen plötzlich scharf nach links lenkte.
„Na schön, wie du meinst.“ Sie bremste ein wenig ab und rollte den Bordstein entlang. Einige Meter vor ihnen war eine Fußgängerin mittleren Alters zu erkennen, sie trug mehrere Einkaufstaschen mit sich und wanderte gemächlich den Gehweg hinab.
Declan konnte und wollte nicht daran glauben, wonach das Szenario gerade aussah, dennoch überfiel ihn augenblicklich ein panisches Gefühl. „Was machst du da? Hör sofort auf damit!“
Doch Alice steuerte das Fahrzeug über die Kante des Randsteins. Im selben Moment wurde Declan mit enormer Wucht in seinen Sitz gezwängt, als Alice das Gaspedal bis zum Anschlag durchpresste.
„Nein!“, schrie Declan vollkommen außer sich, wobei beinahe seine Stimme versagte. Doch es war zu spät.
Ein lauter Knall.
Ein Schrei.
Von der Gewalt des Aufpralls wurde der Körper der Frau im Nu nach oben gerissen. Sie rollte über die Motorhaube und ihre Stirn krachte gegen die Windschutzscheibe. Auf dem Dach überschlug sie sich, während Declan das Biegen von Metall vernahm. Dann wurde sie weit nach hinten geschleudert, wo sie mit einem grausamen und klatschenden Geräusch liegen blieb.
Reglos.
Einen Schuh verloren.
Der Inhalt der Einkaufstaschen über den Asphalt verstreut.
Declan wandte sich verstört um und blickte durch das Rückfenster. Rund um den massakrierten Körper begann sich eine dunkelrote Lache auszubreiten, zugleich schlängelte sich eine blutige Rinnsale über den Teer und mündete in einem gitternen Gullideckel.
Er presste die Augenlider aneinander, um das Bild zu verdrängen und wandte sich augenblicklich wieder nach vorne.
„Oh mein Gott! Was hast du getan? Oh Gott … oh Gott …“, wimmerte er hilflos vor sich hin.
Noch immer rasten sie mit voller Fahrt die Straße entlang, während Alice ihn durch den Rückspiegel musterte. „Und? Bist du jetzt endlich bereit zu tun, was ich von dir verlange?“
Declan regte sich nicht und war noch immer dabei den Schock zu verarbeiten.
„Das war dein Verschulden! Du hast es provoziert!“, fuhr sie ungehemmt fort. „Also los. Wirf jetzt beide Telefone nach draußen, oder der nächste Fußgänger glaubt dran – da vorne ist schon einer!“
Sofort rief Declan auf: „Nein, nein! Warte!“
Er zückte sein privates Mobiltelefon hinter seinem Jackett hervor und hob das andere, womit er mit der Polizei gesprochen hatte, von der Fußmatte auf. Anschließend schob er beide durch den Spalt im Fenster und beobachtete, wie sie von einem Moment auf den anderen verschwunden waren. Daraufhin verringerte Alice merkbar die Fahrt, obgleich sie noch immer mit zügigem Tempo unterwegs waren.
„Gut gemacht, danke“, meinte sie besänftigt.
Eine Weile war es ruhig zwischen ihnen und Declan lauschte dem Klang der Straße und des leisen Motorgeräuschs. Kilometer an Kilometer zogen an ihnen vorüber, während er ununterbrochen darüber grübelte, wie er sich wohl aus dieser misslichen Lage befreien könnte. Doch wie sehr er auch darüber nachdachte, die Situation schien ausweglos – er war Alices Launen unwiderruflich ausgesetzt. Wie er Enrique kannte, war der Benzintank mehr als voll, wodurch Alice ihr Ziel mit höchster Wahrscheinlichkeit erreichen würde, nämlich den Mann aus ihrer Vergangenheit und seine Tochter. Und da er beide Telefone hatte aus dem Fenster werfen müssen, hatten die polizeilichen Behörden keinerlei Möglichkeiten mehr, sie zu orten. Wohl nur ein Wunder vermochte es, dass irgendjemand oder irgendetwas ihn aus diesen Umständen retten könnte. Das einzige was er nun tun konnte war, dafür zu sorgen, dass von nun an keine weiteren Menschen mehr verletzt würden. Mehr, lag nicht in seiner Hand.
Die Zeit verging, während die Landschaft um sie herum immer grüner und hügeliger wurde. Irgendwann bemerkte Declan, dass ihre Fahrt bergauf führte, wobei er versuchte durch die verdunkelten Scheiben zu erkennen, wo genau sie sich dem Moment befanden.
„Weißt du Declan“, unterbrach sie seine Gedanken, dabei klang ihre Stimme ruhig und entspannt, so als wäre bisher nichts Aufsehenerregendes passiert, „wir hatten eigentlich einen recht guten Start. Wäre es denn nicht schön, wenn wir dort weitermachen könnten, wo wir begonnen haben?“
Mit aller Kraft versuchte er in einem lockeren Ton zu antworten und hoffte dabei, dass sie seine Bemühungen nicht bemerkte. „Sicher.“
„Denn ich glaube nach wie vor, dass wir uns auf derselben Wellenlänge befinden.“
„Ja, finde ich auch“, log er. Es widerte ihn an, in Anbetracht der Situation ein harmonisches Gespräch mit ihr zu führen, und ihre absurden Vorstellungen darüber, sie könnten dort weitermachen, wo sie begonnen hatten, waren mehr als nur abwegig. Wie krank war diese Frau nur, fragte er sich.
„Wo fahren wir denn hin?“, meinte er und versuchte dabei die Frage so klingen zu lassen, als wäre es bloß eine beiläufige Floskel.
Gelassen stieg sie darauf ein: „Nun, ich denke bei Ben zu Hause wird man uns bereits erwarten. Aber was die Idioten nicht wissen ist, dass Ben diese Monate immer in seinem Ferienhaus in den Madera Creek Hills verbringt. Er macht das jedes Jahr so – darum habe ich auch genau diesen Zeitpunkt gewählt.“
„Ich verstehe.“
Nun hatte sie auch noch seinen letzten Hoffnungsschimmer zerschmettert und ihm wurde augenblicklich klarer als je zuvor, dass das Ganze keinesfalls gut enden würde. Als ihm aus heiterem Himmel eine Idee kam, versuchte er in einem allerletzten Anflug an Zuversicht zu intervenieren. Es war seine letzte Chance – und das wusste er. „Ach lass den Kerl doch, ich würde viel lieber mit dir an den Strand fahren oder mich gemeinsam mit dir in das nächste Flugzeug setzen und einen romantischen Urlaub verbringen. Wellness, Massagen, gutes Essen, Frühstück im Bett – und die Betonung liegt auf Bett, wenn Du verstehst?“
„Das wäre mehr als wunderbar“, antwortete sie verträumt. „Aber ich schulde Ben noch einen Denkzettel, es geht leider nicht anders. Aber hinterher bin ich absolut dabei, ich freue mich schon darauf.“
Das war’s, gestand er sich ein. Es gab also keine Möglichkeit sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Es war hoffnungslos.
Er bemerkte, wie der Wagen in engen Kurven bergauf fuhr, wobei der Weg immer steiler wurde.
„Wir sind bald da, gleich haben wir es geschafft, Declan.“
Ihm wurde übel. Alle Möglichkeiten waren ausgeschöpft und es gab nichts mehr, das er noch tun konnte. Schließlich erkannte er durch die blutverschmierte Windschutzscheibe, wie sie das offenstehende Einfahrtstor eines Privatgrundstücks passierten.
Ein Schauer lief Declan über den Rücken und wieder war da dieser Anflug an Panik in seinem Inneren. Aus der Ferne erkannte er eine hölzerne Hütte mit einer Veranda. Sie sah gepflegt aus und war gut in Schuss. Davor befand sich ein kleiner Garten mit Schaukel und Sandkasten. Rund um das gesamte Gelände zog sich ein morscher, hölzerner Zaun, der das Anwesen von einem schluchtartigen Abhang trennte, welcher hinab ins Tal führte.
Plötzlich erstarrte Declan und ihm blieb von einem Moment auf den anderen die Luft weg. Denn der Sandkasten war nicht leer. Ein kleines Mädchen saß darin, umringt von Puppen und weiterem Spielzeug war es gerade dabei eine Burg aus Sand und Lehm zu bauen. Runde, kindliche Backen umrahmten das zarte Gesicht des Mädchens und spiegelten ein unschuldiges, liebliches Lächeln wider – nichtsahnend, dass verbitterte und rachsüchtige Augen ihr Ziel bereits ins Visier genommen hatten. Als Alice das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrückte, vernahm Declan einen Schub, der ihn erneut in seinen Sessel presste. Die Limousine steuerte direkt auf das Mädchen zu und Declan hatte alle Mühe, zu realisieren was gerade geschah. Dass sie noch nicht einmal vor einem kleinen Kind Halt machte, sprach Bände – Bände, die es ihm eiskalt den Rücken unterlaufen ließen, und ob Declan nun glaubte oder nicht, was sich soeben vor seinen Augen abspielte; feststand, dass er handeln musste und ebenso stand fest, dass ihm die Zeit davonlief. Der Motor heulte mit lautem Getöse auf und der Körper des Mädchens war nur noch einige wenige Meter entfernt, da sprang Declan ruckartig nach vorne, zwängte seinen Arm durch den offenen Spalt in die Fahrerkabine und fasste an Alices Hinterkopf. Seine Finger vergruben sich in ihrem Haar und krallen sich fest, dann riss er ihren Schädel mit aller Kraft nach hinten und schrie: „Du krankes Miststück!“
Alice stieß einen grellen, schmerzerfüllten Schrei aus, zugleich raste der Wagen über unebenes Gelände. Stock und Stein krachten gegen die Unterseite des Fahrzeugs und prallten an Achse und Auspuffanlage ab, sodass Alice und Declan von einer gewaltigen Wucht durchgerüttelt wurden. Declan verlor Alice aus seinem Griff und prallte zu Boden. Als er benommen aufblickte, sah er, dass sie noch immer geradewegs auf die hölzerne Sandkiste zurasten. Verzweifelt blickte er sich um, als seine Augen plötzlich erstarrten. Aus der Handtasche, die ebenfalls auf der Fußmatte gelandet war, ragte der Griff einer Pistole und sofort begriff er, dass es die Waffe des Wachmanns war, den sie in der Vollzugsanstalt getötet hatte. Declan ließ keinen Augenblick verstreichen, griff nach der Waffe und richtete sie nach vorne in Richtung des Cockpits.
Dann schoss er.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal und immer weiter.
Ein dumpfes Stöhnen drang aus der Fahrerkabine und Alice wankte zur Seite. Das Steuer fest im Griff, riss sie es mit sich und löste damit eine scharfe Linkskurve aus. Nur um Haaresbreite verfehlte der Wagen sein menschliches Ziel, prallte gegen das Zaungerüst und durchbrach es. Holzlatten, Staub und weiteres Geröll wirbelten durch die Luft, zugleich sauste das Fahrzeug mit lautem Krach die Böschung hinab. Dann prallte Metall gegen Erde und der Wagen überschlug sich. Declan vernahm das Geräusch der sich biegenden Karosserie, während er mehrmals von einem Ende zum anderen geschleudert wurde, anschließend hoch und runter und darauf das Ganze wieder von vorne. Ein letzter gewaltiger Rums – und plötzlich war es still.
Totenstill.
Allmählich begann ein leises Pfeifen durch das zermarterte Autowrack zu summen und Dampf drang durch das Motorgehäuse ins Innere. Jeder Knochen in Declans Leib schmerzte und als er sich versuchte zu orientieren, bemerkte er, dass das Fahrzeug inmitten der kurvigen Bergstraße auf dem Dach lag. Glasscherben und Metallteile lagen rings um das Wrack verstreut und eine der hinteren Türen hatte sich aus seiner Verankerung gerissen. Er startete den Versuch sich zu bewegen und durch den dichten Rauch zu klettern. Ein höllischer Schmerz durchfuhr seinen gesamten Körper und er vermutete, dass er sich sämtliche Knochen gebrochen hatte. Auf seiner Stirn spürte er eine klaffende Wunde, worauf er sich das Blut aus den Augen strich, das in Strömen über sein Gesicht floss. Als er seinen geschundenen Leib endlich durch die Öffnung ins Freie geschleppt hatte, hörte er ein leises Krächzen. Er wandte sich um und erblickte Alices blutüberströmten Körper. Eingeklemmt und zusammengequetscht, ein jedes ihrer Gliedmaßen kaum mehr dort, wo es einmal war.
„Wir hätten glücklich werden können …“, stöhnte sie schwach, wobei ihre Stimme nach nicht mehr als einem Flüstern klang. Dann loderte plötzlich eine Stichflamme hinter ihr auf und schwarzer Rauch bahnte sich seinen Weg aus sämtlichen Öffnungen des Wracks. Declan konnte die glühende Hitze spüren, die ihm mit einem Mal entgegenschoss. Sein Körper konnte die ansteigende Temperatur kaum mehr ertragen, worauf er sich abwandte und auf Händen und Füßen davonkroch. Währenddessen stieß Alice verstörende Schreie aus, die sich mit Sicherheit auf ewig in Declans Gedächtnis brannten. Als er nach einigen Metern nicht mehr weiter konnte, sackte er auf dem Asphalt zusammen und blickte sich ein letztes Mal um. Er erkannte Alices von kochenden Hitzeblasen übersätes Gesicht und sah, wie sie noch immer aus Leibeskräften schrie – dann erfüllte plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die Atmosphäre und anstelle des Wagens stieg ein riesiger Feuerball in die Höhe und verwandelte sich in den Sekunden darauf zu einer schwarzen Rauchwolke.
Brennende Wrackteile sanken vom Himmel zu Boden und verteilten sich rings um Declans Körper. Kurz darauf breitete sich erneut Ruhe und Stille aus, einzig das seichte Knistern des Feuers war noch zu hören. Declan drehte sich erschöpft auf den Rücken und starrte dem Sonnenlicht entgegen. Reglos blieb er liegen und atmete erleichtert aus. Denn nun war es endlich vorbei.
Aus der Ferne erklangen die Sirenen der Notarzt- und Polizeiwägen, und zugleich fühlte er, wie ein kaum merkbares Lächeln über seine Lippen wich.
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Daniel Tappeiner: Die fremde Ehefrau
Text von Daniel Tappeiner, Beitragsbild von Peter H auf Pixabay

Daniel Tappeiner
Daniel Tappeiner, Jahrgang 1983, geboren in Nord-Italien, war über ein Jahrzehnt lang in einem weltführenden Dental-Konzern tätig, wo er für Tages- und Entwicklungstätigkeiten zuständig war, während er zugleich an mehreren Romanen arbeitete, bis er sich letztlich völlig der Schriftstellerei verschrieb.
U.a. wurde sein Werk "Mädchenseelen" im Auftrag des DP-Verlags durch Kino-Synchronsprecher Moritz Brendel als Hörbuch vertont.
Tappeiner lebt seit 2003 gemeinsam mit seiner Ehefrau in Meran, Südtirol.
Autorenseite:
www.daniel-tappeiner.de
Instagram:
www.instagram.com/danieltappeiner83
YouTube:
www.youtube.com/@danieltappeiner7456
© Johanna Haller (Foto)