Legenden der Ta’el von Lukas Wienerroither

Nemrod warf einen Blick in seinen Ranzen. Ernüchternd. Nur noch zwei Schutzsalben. Die würden bestenfalls vier Sonnensprünge reichen. Er suchte den Himmel ab und fand die Sonne den Weg in den Westen einschlagen.

„So spät schon?“, fragte er sich laut. „Dann wird es ohnehin Zeit, ins Lager zurückzukehren. Na schön. Sobald die Wirkung der ersten Schutzsalbe nachlässt und ich die zweite auftragen muss, machen wir uns auf den Heimweg. Es wird zwar dann schon finster sein, aber für diesen Fall habe ich ja meine Geisterlampe mit.“

„Miau.“

„Unsinn“, widersprach er seiner Freundin. Nicht, dass er wusste, was Lilly gesagt hatte, aber der Ta’el und er waren schon lange gemeinsam unterwegs. Verdammt lange. Auch wenn sie nicht die gleiche Sprache hatten, verstanden sie einander auf der Gefühlsebene. „Dieses Mal werden wir es rechtzeitig schaffen, bevor uns die Schutzsalben ausgehen und wir fürchten müssen, von wilden Ta’el angegriffen zu werden. Du wirst schon sehen.“

„Miiiau.“

„Ich weiß, ich weiß. Das sage ich immer. Aber bis jetzt ist uns das nur zweimal passiert. Vielleicht dreimal. Aber bestimmt nicht viermal. Das Erlebnis in Fenheim … Du weißt, welches ich meine. Das zählt nicht.“

„Miauuu.“

„Hmm, guter Punkt. Wir könnten natürlich jetzt schon zurückgehen, aber ich bin mir sicher, dass der Ventulynx, den wir vorhin beim Fressen gestört haben, immer noch seine Kreise zieht und Appetit auf Wassergeister hat. Darauf sagst du plötzlich nichts mehr, wie? Wusst‘ ich’s doch, du feiges Kätzchen. Na komm, schauen wir uns die Höhle dort hinten näher an.“

Nemrod kletterte von dem Plateau hinunter und Lilly folgte ihm. Das war für den kleinen Ta‘el gar nicht so einfach. Ihre Schwimmhäute halfen der blauen Katze dabei nicht und ihre Rückenflosse sah nicht so aus, als würde sie ihr mehr Balance geben. Nemrod wusste natürlich, dass die Berge von Hirsill nicht das geeignetste Habitat für einen Wassergeist waren. Trotzdem hatte er sie lieber an seiner Seite statt im Seelenstein und er wusste, dass sie seine Ansicht teilte. Die irdische Welt schien für Lilly eine besondere
Anziehungskraft zu haben.

Kalter Wind blies den beiden entgegen und ließ Nemrod frösteln. In seiner rotbraunen Ledergarnitur war er beweglich und sie konnte vor leichten Angriffen schützen, gegen Kälte half sie nur bedingt. Seine langen Filzlocken flatterten im Wind und erinnerten ihn daran, dass er das nächste Mal eine Kopfbedeckung aufsetzen sollte. Zumindest an feste Stiefel hatte er gedacht und die Handschuhe halfen dabei, sich am rauen Gestein nicht die Haut aufzuscheuern.

„So weit, so gut“, sagte Nemrod, als er vom Plateau gestiegen war. Er atmete tief durch und sah den Bergpfad hinauf. Dass er die Höhle von der Hochebene aus gesehen hatte, war zwar schön und gut, aber er musste auch irgendwie dorthin gelangen. Während er sich das überlegte, tauschte er seine Handschuhe gegen die vorletzte Schutzsalbe und rieb sich damit ein. Das schmierige Zeug ließ seine dunkle Haut glänzen. Hinter ihm hörte er Lilly, die es ebenfalls sicher hinuntergeschafft hatte. Sie fauchte und er schenkte ihr einen entschuldigenden Blick. „Ich weiß, du magst die Schutzsalbe nicht. Kein Ta’el tut das. Genau deshalb trage ich sie auch auf.“

„Miaumiau.“

„Findest du? Vielleicht hatte ich tatsächlich schon bessere Ideen. Aber stell dir vor, was alles im Inneren der Höhle lauern könnte. Ein Ventucapra.
Ein Schwarm Ventuchiropt. Oder eine völlig neue Spezies. Es muss nicht einmal ein Luftgeist sein. Vielleicht lebt ein legendärer Ta’el da drinnen. Lass dir das einmal durch den Kopf gehen. Das wäre die größte Entdeckung überhaupt!“

„Miau?“

„Ja, mir ist bewusst, dass viele Bergstämme glauben, das Erwachen eines legendären Ta’el würde den Untergang der Welt herbeiführen. Aber es könnte auch etwas ganz Anderes bedeuten. Fakt ist: Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was mich in dieser Höhle erwarten wird!“ Nemrod lächelte. „Und genau deshalb muss ich einfach dort hinein.“

Er setzte sich in Bewegung und spürte schon nach wenigen Schritten ein Stechen in seinem rechten Knie. Es Schmerz zu nennen, wäre übertrieben gewesen.
War es das Alter, das sich langsam bemerkbar machte? Wohl kaum. Er hatte noch keine vierzig Sommer erlebt. Noch nicht ganz. An der körperlichen Anstrengung konnte es auch nicht liegen. Als Forscher war er andauernd unterwegs und es war
nicht der erste Berg, den er bestieg. Vielleicht war es einfach nur ein böses Vorzeichen. Die Leute aus Wukan glaubten daran, dass sich Omen – gute ebenso wie schlechte – in Muskeln und Knochen bemerkbar machten. Als jemand, der beobachtete, aufzeichnete und daraus Schlussfolgerungen zog, war das natürlich schwer zu glauben. Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht locker. Im Gegenteil.
Zweifel begannen sich in ihm zu regen.

„Miauuu …“

„Jetzt fängst du auch schon damit an. Alles ist gut, ja? Uns wird schon nichts passieren.“

Während sich Nemrod weiter den Bergpfad hinaufkämpfte, wuchs das mulmige Gefühl immer weiter an, wie ein Geschwür, das sich in seinen Gedärmen breitmachte. Die Berghänge nahmen einen großen Teil seines Sichtfeldes ein, trotzdem hätte er den einen oder anderen Ta’el sehen müssen. Ihre Abwesenheit ließ sich nicht durch die Schutzsalbe erklären. Die mit Seelenstaub angereicherte Mixtur konnte Geister auf Distanz halten, aber sie nicht aus ihrem Revier verscheuchen. Seit Nemrod und Lilly vom Plateau gestiegen waren,
hatte sich kein einziger Ta’el blicken lassen. Dabei war dies der ideale Lebensraum für Luftgeister. Warum also fehlte von ihnen jede Spur?

Die Höhle kam in sein Sichtfeld und sofort schlug sein Herz schneller.
Zum Teil lag dies an den Anstrengungen des Aufstiegs, seine Vorfreude leistete aber ebenfalls einen Beitrag dazu. Oder war es das mulmige Gefühl, das sich langsam in Angst wandelte?

Die beiden legten den restlichen Weg bis zur Höhle zurück und spähten vorsichtig in das Innere. Schwärze. Natürlich. Was hatte er erwartet? Nemrod holte aus seinem Ranzen die Geisterlampe heraus. Er drehte am Deckel des würfelförmigen Gegenstandes und beobachtete durch die Glaswände, wie Seelenstaub aus dem oberen Behältnis in den größeren Hohlraum rieselte. Nach kurzer Zeit leuchteten die Partikel auf und die Lampe strahlte ein gelbliches Licht aus, das den Höhleneingang beleuchtete.

Die Wände waren glatter, als Nemrod erwartet hatte. Eine Tropfsteinhöhle? So hoch in den Bergen? Er betastete den Stein und wölbte die Stirn. Gestein war nicht sein Spezialgebiet, aber irgendwie fühlte es sich seltsam an. Es kribbelte auf den Fingerkuppen. Waren die Höhlenwände elektrisch
geladen?

Nemrod betrachtete Lilly mit einem zweifelnden Blick. „Na schön, ich sehe es ein. Das könnte tatsächlich gefährlich werden. Dummerweise hat mein Forscherdrang schon überhandgenommen. Du bleibst besser hier in Sicherheit, verstanden?“

„Miau!“

„Bist du sicher? Du weißt genauso gut wie ich, dass sich Blitze und Wassergeister nicht gut vertragen.“

„Miau!“

Der Blick in Lillys blauen Augen sprach Bände. Trotz ihrer Angst wollte sie ihn nicht alleine lassen. Nemrod war gerührt. „Du hast recht. Wir beide sind immer zusammen. Und ich könnte durchaus jemanden brauchen, der auf mich aufpasst. Aber wirf mir nachher nicht vor, ich hätte dich nicht gewarnt.“

Nemrod nahm einen tiefen Atemzug und wagte sich mit Lilly an seiner Seite tiefer in die Höhle hinein. Der Gang war relativ breit und führte beständig geradeaus. Außerdem war der Boden weitgehend eben und stieg weder an
noch flachte er ab. Das war schon seltsam genug, aber noch seltsamer war die Präsenz, die in der Luft lag. Es knisterte. Nemrod spürte es als sanftes Zwicken auf seiner Haut. Wenn er über Lillys Fell streicheln würde, bekämen sicher beide einen Stromschlag.

Sein Herz schlug immer schneller. So etwas hatte er noch nie erlebt. Es gab Blitzgeister, die ihre Umgebung elektrisch aufladen konnten, aber eine ganze Höhle? Einerseits war es aufregend, andererseits auch besorgniserregend.
War überhaupt ein Ta’el dafür verantwortlich oder könnte es etwas völlig anderes sein? Jedenfalls musste es erforscht werden. Furcht würde seiner Leidenschaft niemals Einhalt gebieten.

Die Höhle öffnete sich und das Licht der Geisterlampe bekam Probleme, den gesamten Gang auszuleuchten. Dafür legte sich der Schein auf etwas, das in der Mitte des Ganges lag.

Etwas Lebendiges.

Der Ta’el hatte die Gestalt eines Pferdes mit Mähne und Schweif in einem leuchtenden Blau. Durch sein weißes Fell zogen sich azurfarbene Linien, die mit jedem Atemzug des Geistes aufleuchteten. Am faszinierendsten war jedoch das Horn auf seiner Stirn. Es ließ den Ta’el nicht nur bedrohlich, sondern auch majestätisch aussehen.

So etwas hatte Nemrod noch nie zuvor gesehen. Es musste sich um eine Spezies handeln, die keiner bisher verzeichnet hatte. Aber nicht nur das. Die elektrisierende Aura, die der Geist ausstrahlte, war überwältigend. Er musste nicht einmal angreifen, um Nemrod eine Gänsehaut zu verpassen. Dem Kaiser sei Dank, dass das Wesen zu schlafen schien.

„Miau …“ machte Lilly ängstlich und bezweckte damit das genaue Gegenteil von dem, was sie sich wohl gewünscht hatte: Der Ta‘el öffnete die Augen. Sie schimmerten gelblich und bestätigten Nemrod, was er bereits angenommen hatte:
Es handelte sich um einen Blitzgeist. Und bestimmt um keinen gewöhnlichen.

Das Wesen erhob sich auf die Beine und zeigte Nemrod, dass es
außerordentlich groß für einen Ta’el war. Er stand einem echten Pferd nicht viel nach. Die Linien in seinem Fell leuchteten jetzt noch stärker und in höherer Frequenz. Der Blitzgeist schabte mit den Hufen und ließ damit blaue Funken über den Boden tanzen.

Nemrod schluckte und ging in die Hocke. Langsam, sehr langsam, streckte er seine Arme aus, um zu signalisieren, dass er weder eine Waffe noch einen Seelenstein in der Hand hatte. Sein Blick fixierte ohne Unterlass die gelben Augen. „Ich tu dir nichts“, versicherte er mit kratziger Stimme. „Mein Name ist Nemrod. Ich bin ein Forscher, kein
Bändiger. Wir müssen also nicht gegeneinander kämpfen. Ich …“

Plötzlich wieherte der Ta’el und schoss vorwärts. Nemrod riss vor Angst die Augen auf. Der Blitzgeist kam direkt auf ihn zu!

Nemrod ließ sich auf den Boden fallen, doch es hätte keinen Unterschied gemacht. Kurz bevor das Pferd in den Forscher hineinkrachen konnte, stieß es sich vom Boden ab und hechtete über Nemrod hinweg. Dieser starrte dem Ta’el hinterher, bekam aber nicht mehr viel von ihm zu sehen. In Windeseile schoss er aus der Höhle. Dort, wo die Hufen auf das Gestein aufschlugen, zuckten bläuliche Blitze über den Boden.

Nemrod zögerte nicht lange und sprang auf. So schnell es seine Beine erlaubten, lief er dem Ta’el hinterher. Als er ins Freie trat, suchte er mit den Augen seine gesamte Umgebung ab. „Wo bist du? Zeig dich. Ich weiß, dass du
hier irgendwo …“

Ein Wiehern, das schon fast ein Brüllen war, lenkte Nemrods Aufmerksamkeit auf ein Plateau. Dort oben stand der Blitzgeist und reckte sein Horn in die Höhe. Ein blaues Leuchten hüllte ihn ein, so grell und intensiv, dass sich Nemrod für einen Moment die Hand vor die Augen halten musste.
Zwischen seinen Fingern konnte er erkennen, wie die Luft über dem Plateau knisterte. Immer mehr Funken sprühten, bis plötzlich eine gewaltige Lichtsäule in den Himmel schoss. Wieder wurde Nemrod geblendet und dieses Mal fühlte es sich an, als hätte er direkt in eine blaue Sonne gestarrt.

Innerhalb kürzester Zeit kam ein Wind auf, der Nemrod beinahe von den Füßen gehoben hätte. Als er endlich wieder sehen konnte, beobachtete Nemrod, wie sich um die Säule herum Wolken sammelten. Sie zogen sich immer weiter zusammen, wurden schwarz und gossen Regen über das Gebirge. Schon folgte der erste Blitz, der mit einem grölenden Donner einherging. Über den tosenden Sturm war nur das Geheul des gehörnten Pferdes zu hören, das an den Berghängen widerhallte.

Nemrod war so gefesselt, dass er Lilly erst bemerkte, als sie sich mit ihren Krallen in seine Wade hakte. Außerdem hatte der Regen beide bereits von Kopf bis Fuß eingeweicht. Er bückte sich, hob den verängstigten Wassergeist auf und drückte sie fest an sich. Als er wieder hochsah und einen Blick auf das Pferd werfen wollte, war es weg. Die Säule aus blauem Licht verblasste langsam, der Sturm jedoch blieb.

„Das war kein normaler Blitzgeist“, murmelte Nemrod. Lilly hörte ihn wegen des Donnerns und Regenprasselns wahrscheinlich nicht, aber er hatte es auch mehr zu sich selbst gesagt. Er streichelte über ihr nasses Fell und wusste gar nicht, ob er damit den Wassergeist oder sich selbst beruhigen wollte. „Es gibt keinen Zweifel. Ich habe tatsächlich einen legendären Ta’el entdeckt.“

Und damit vielleicht das Ende der Welt heraufbeschworen.

 

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Text von Lukas Wienerroither, Beitragsbild von Alan Frijns auf Pixabay

Picture of Lukas Wienerroither

Lukas Wienerroither

Lukas Wienerroither wuchs im Bezirk Mödling, Österreich
auf. Mit fünfzehn Jahren verfasste er seinen ersten Roman,
dem viele weitere folgten. Während sich seine frühen Werke
mehr an den Klassikern des Fantasy-Genres orientieren,
nahm seine Ausbildung im Natur- und Umweltfachbereich
einen starken Einfluss auf die Themen seiner Geschichten.
Obwohl sie alle dem High Fantasy zugeordnet werden
können, sind seine Bücher gesellschaftskritisch und ziehen
Parallelen zu teilweise aktuellen Herausforderungen wie der
Klimakrise, religiösem Fanatismus und dem rücksichtslosen
Streben nach Macht. Heute arbeitet er im Marketing und ist
nebenbei als Lektor tätig. In seiner Freizeit nimmt er
Unterricht im Schwertkampf und betreut regelmäßige
Treffen des international tätigen Schreibnetzwerkes Shut Up & Write! in Wien.

https://lukaswienerroither.com/
© Lukas Wienerroither (Foto)

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