Die kleine Buchstabenfee und der Ball der Bücher von Verena Minoggio-Weixlbaumer

Die kleine Buchstabenfee und der Ball der Bücher

 

Es war einmal eine kleine Buchstabenfee. Sie lebte in einer wunderbaren Welt, in der Buchstaben wie Schmetterlinge durch die Luft tanzten. Ihr winziges Zuhause war ein Häuschen aus vergilbten Seiten und kostbarem, lesefreundlichem Holz, das tief in einem Wäldchen stand. Es war umgeben von flüsternden Lexikonbäumen, deren weit verzweigte Äste aus Gedankenstrichen einander umarmten und zarte Blüten aus Satzzeichen bildeten. Wörter raschelten in den Kronen, und wenn der Wind durch die Wörterbäume strich, waren die leisen Geräusche zu hören, wenn die Geschichten sich aneinander lehnten, ineinander verschränkten, miteinander rangen oder sich gemeinsam zu großen Dramen aufblähten.

Die Fee liebte alles an ihrem Dasein und die Buchstaben waren wie ihre Familie. Sie streichelte das R von „Ruhe“, tanzte mit dem Z von „Zauber“ und sammelte nachts verlorene Punkte, die aus Sätzen gefallen waren. Ihre hauchzarten Flügelchen aus hauchdünnem Papier schimmerten und waren bedruckt mit winzigen Versen, die nur für jene lesbar waren, die das Glück hatten, ihr zu begegnen, wenn sie gerade innehielt und still versunken auf ein Blatt voller Buchstaben blickte.

Die Welt der kleinen Buchstabenfee war durchwirkt von Wörtern. Diese verfügten nicht nur über einen eigenen Klang, sondern waren eigenständige kleine Wesen. In der nahen Stadt, die sie oft im Schutze von Dämmerung oder Nebel besuchte, fand sie Spuren von Sprache an den ungewöhnlichsten Orten: Verse, die sich auf Pflastersteinen niedergelegt hatten wie müde Reisende. Glitzernde Adjektive zeigten sich unscheinbar und kaum sichtbar auf Fensterscheiben gehaucht. Sie entdeckte Wörter auf Tassenrändern, Schränken und gigantischen Mauern, als wären sie von unsichtbaren Riesenhänden dorthin geschrieben worden. Diese Welt war der kleinen Fee fremd, erschien ihr manchmal unheilvoll, aber sie war so fasziniert, dass sie sich wie magisch angezogen fühlte.

Am meisten staunte sie über die Buchstaben, die aus kleinen viereckigen Kästen leuchteten, blinkend, vibrierend, geheimnisvoll. Die großen Wesen, die in dieser Stadt lebten, berührten diese Kästen ständig mit ihren Fingern, als führten sie stumme Gespräche mit unsichtbaren Geistern. In der Feenschule hatte man sie gewarnt: Diese Wesen hießen Menschen, und es sei klüger, ihnen fernzubleiben. Sie seien mächtig in der Kunst der Buchstaben und das stimmte. Sie konnten mit ihnen ganze Welten wie aus dem Nichts erschaffen, aber ebenso konnten sie diese Welten mit einem einzigen anderen Wort wieder vernichten. Einige spannen aus Wörtern die unglaublichsten Lichterketten, die bis in den Himmel reichten. Andere ließen sie wie fallende Messer regnen.

Und obwohl ihr diese Welt und diese Wesen Angst einflößten, war die kleine Fee neugierig geblieben. Denn je öfter sie sich heimlich in die Stadt wagte, desto deutlicher erkannte sie: Nicht alle Menschen waren gefährlich. Die meisten schienen eher zerstreut, manchmal traurig, viele trotteten ganz verloren mit ihren kleinen Leuchtkästen durch die Nacht. Sie aßen Suppen mit schwimmenden Buchstaben, tranken tintenfarbene Getränke mit Milchschaumkronen und pressten ihre Stimmen in Geräte, die aussahen wie zu klein geratene Briefkästen. Manche hielten ihre Kästchen wie Schutzamulette an ihre Ohren und lauschten so Stimmen, die sie trösteten, verärgerten oder ihre Augen zum Leuchten brachten. Und die kleine Fee fragte sich, ob diese Menschen vielleicht selbst verzaubert waren – von der Sprache, die sie nie völlig bändigen konnten. So wie sie selbst.

Doch eines Tages geschah etwas Seltsames.

Die Fee fand ein Wort, das falsch war. Nicht ganz falsch – nur … verdreht. Ein „Lächeln“ war zu einem „Löcheln“ geworden. Ein „gemeinsam“ zu „gemein“, aus Freundschaft, ein Wort, das sie besonders liebgewonnen hatte, wurde plötzlich „Feindschaft“, aus „Lohn“, einem fröhlichen kleinen Gesellen, wurde „Hohn“ und manche Wörter, die sie früher stets fröhlich angelächelt hatten, starrten nur noch düster vor sich hin. Erst dachte sie an Zufall. Doch es wurden mehr und mehr. Wörter kippten um wie Bauklötze, Sätze verloren ihren Klang. Buchstaben verschwanden, einfach so. Was blieb, war kalt, verwirrend und leer.

Die Fee suchte. Sie flog durch Kapitelstürme, durchkämmte Silbenseen, klopfte bei Grammatikgeistern an, doch vergeblich. Niemand wusste, wohin die Buchstaben verschwanden. Und schlimmer noch: Es tauchten Wörter auf, die sie noch nie gesehen hatte. Scharfe, kantige, graue Wörter. Wörter, die verletzten.

Die kleine Fee wurde still. Ihre Flügel verloren Farbe, die kleinen Verse darauf wurden grau und noch unscheinbarer. Überall erblickte sie plötzlich nur noch böse Wörter, die ihr Grauen über sie ausschütteten und sie in ein Dunkel zu drängen versuchten. Sie wehrte sich, sprach den Buchstaben gut zu, motivierte sie, zeigte ihnen die schönen Dinge auf der Welt, brachte kleine Punkte und Sterne. Doch kaum losgelassen, blähte sich der Punkt so lange auf, bis er zersprang und dehnte sich immer weiter aus, bis er sich in drei rote, drohende Rufzeichen gewandelt hatte, die Sterne bildeten aus ihren leuchtenden Spitzen gefährliche kleine Haken und versuchten, sie mit sich zu ziehen. Die kleine Fee wusste nicht ein noch aus. Schließlich rollte sie ihre Gedanken ein wie ein Manuskript, das nie fertig wurde. Und eines Abends löschte sie das Licht aus Buchstabenglut in ihrer Hütte und sprach den traurigsten Satz, den sie kannte: „Ich will keine Wörter mehr sehen.“

Viele Nächte vergingen. Die Welt draußen rauschte weiter, aber in ihr war es stumm. Ihr glöckchenhelles, glückliches Lachen war verstummt und die kleine Fee rollte sich in ihrem Bettchen zusammen und schwor sich, nie wieder einen Gedanken an all die wunderbaren Wörter, die sie vorher gekannt hatte, zu verschwenden. Lieber wollte sie in einer grauen, buchstabenlosen Welt leben als mit all den bösen Wörtern. Ihre kleine Buchstabenwelt versank mehr und mehr in dem alles verzehrenden Grau.

Dann jedoch, an einem Dämmermorgen, lag ein Brief auf der Schwelle ihres Häuschens, das der Wind herbeigetragen hatte. Ohne Absender, aus Papier, das nach Sternen roch. In feiner Tintenschrift stand dort:

„Der Ball der Bücher. Heute Nacht. Wo Wörter flüstern und Träume lesen können. Komm.“

Die Fee hielt den Brief lange in den Händen. Sie konnte ihn kaum ansehen, so sehr fürchtete sie, dass auch diese Worte zerfallen könnten. Doch etwas in ihr regte sich. Ganz leise. Eine kleine Hoffnung stieg zart in ihr auf.

In einer verstaubten Schublade fand sie ihr altes Buchstabenkleid. Es war aus Seidenfäden gewoben, durchzogen von Satzzeichen. Die Knöpfe waren kleine, liebevolle Ausrufezeichen, der Saum glitzerte in kursiven Verben.

Sie zog es an. „Vielleicht“, flüsterte sie sich selbst zu. Und dann ging sie einfach los.

Der Ball der Bücher war kein Ort, er war eine Welt ohne Horizont. Ein Raum aus offenen Seiten, eine Halle aus Gedanken, in der Bücher flogen wie Vögel und Wörter sich auf Parkettböden wie Schatten bewegten. In ungläubigem Staunen trat sie durch die prunkvollen Tore, gebildet aus den größten Buchstaben, die sie je gesehen hatte.

Und als sie eingetreten war in den wundervollen Raum, war sie umfangen von einer fantasievollen Buntheit, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie wurde willkommen geheißen von Buchstabenfeen, Wörter, die dicht umschlungen miteinander tanzten, winkten ihr freudig zu, als hätten sie schon lange auf sie gewartet. Manche waren zart wie Kommas, andere wild wie bedeutungsvolle Doppelpunkte. Es gab Elfen mit Lesezeichen im Haar, Könige aus Lederbänden mit goldgeprägten Titeln auf der Brust und mächtige Lexika, die eine Unzahl an Buchstaben mit sich trugen und alle Mühe hatten, alle wieder einzufangen, die versuchten, herauszuspringen und sich in dem farbenfrohen Treiben zu verlieren.

Alle sprachen in Versen, sangen in Glossen und manche tanzten Strophen im Kreis. Geschichten wirbelten durch den Raum, manche alt, manche neu, manche versuchten, widersprüchlich und unfertig, einen roten Faden zu finden, an dem sie sich entlanghanteln konnten.

Die kleine Fee lachte. Zum ersten Mal seit langer Zeit erklang dieser wundervolle Ton und erreichte all die anderen, denen sie sich so nahe fühlte.

Sie erkannte: Auch wenn Wörter verloren gehen, wenn Sprache verletzt wird oder verkümmert, irgendwo, immer, gibt es jene wundervollen Wesen, die die Buchstaben hüten. Die sie reparieren, neu erfinden, lieben.

Und an diesem Ort, in dieser Nacht, da flog ein E wieder zurück in ein „Liebe“, ein kleines h fühlte sich wohl im „Licht“ und manchmal im „Lachen“, die „Freundschaft“ ließ es sich nicht nehmen, das „Leben“, das „Lachen“ und die „Liebe“ im Kreis zu wirbeln.

Die kleine Buchstabenfee tanzte. Und ihre Flügel leuchteten wieder.

Text von Verena Minoggio-Weixblaumer, Beitragsbild von jcoop12

Picture of Verena Minoggio-Weixlbaumer

Verena Minoggio-Weixlbaumer

Verlagsleiterin der Goldegg Verlage

https://www.goldegg-verlage.com/
Instagram: @die.stressmacherin

© Minitta Kandlbauer (Foto)

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